Textqualität in Social Media – am Beispiel guter Tweets auf Twitter

Mein Beitrag zur Tagung „Wie misst man Textqualität im digitalen Zeitalter?“ an der Universität Mannheim (19.06.2018) im Rahmen des Projektes MIT.Qualität ist eine kurze Umschau auf Twitter: Ich betrachte einige gute Textbeispiele auf Twitter, als Werke aus dem Genre „Microblogging“: Lyrisch – prosaisch – virtuell.
(Tagungsprogramm hier)

Die Auswahl der Tweets zum Thema findet sich hier unkommentiert als Twitter-Moment:

Ergänzend dokumentiere ich hier im Blog meine gedanklichen Linien und Kommentare zu den ausgewählten Tweet-Beispielen.

Twitter ist nicht bloß ein Kurznachrichtendienst. Neben den Möglichkeiten, via Twitter aktuellste Fakten, Informationen und Meinungen zu allem was gerade diskutiert wird zu erhalten, haben viele Twitterati (= Twitter-Autor*innen) das Medium von Beginn an genutzt, um sich darin kreativ, lyrisch wie literarisch auszudrücken.

Das Verfassen von Kurztexten (Microblogging) ist eine Königsdisziplin des Textens, denn was ist kunstvoller und reizvoller, als in einem treffenden Satz Wesentliches auszudrücken. Die lange gegebene Beschränkung auf 140 Zeichen machte schlicht und einfach auch Spaß, und animierte viele dazu, virtuose Kurzprosa hervorzubringen.
Das macht es mir leicht, gute Beispiele für Socia-Media-Texte für die Tagung auszuwählen. Gerade auf Twitter lassen sich hervorragende Beispiele für Textqualität in Social Media finden – feinsinnige Kurzlyrik, treffende Beobachtungen, ästhetisch überzeugende Darstellungen.

Als 2017 Twitter beschloss, eine Erweiterung der Tweetlänge von 140 auf 280 Zeichen vorzunehmen, kam das für mich zunächst einem „Niedergang der digitalen Hochkultur“ der Twitter-Kurzprosa gleich. Nach dem Abwischen einiger virtueller Tränen (Vgl. meinen Beitrag „Twitter für Einsteiger – mit 280 Zeichen zum Erfolg (vormals 140 Zeichen 🙁 )“ https://www.webgewandt.de/2017/09/twitter-fuer-einsteiger-mit-140-zeichen-zum-erfolg/) hatte ich mich wieder gefangen und stellte fest, dass Twitter trotz der Erweiterung immer noch ästhetisch Überzeugendes hervorbringt.

Auch die Schriftstellerin und Netzexpertin Kathrin Passig hat eine wenig kulturpessimistische Sicht darauf und konstatiert dazu:


Dazu ein Beispiel von h.c. artmann:


Und manche Lyrik ist ja auch nicht so kurzab, wie Digitalentrepreneur Philip Steuer zeigt.

Die Erweiterung auf 280 Zeichen pro Tweet konnte er kaum besser legitimieren, als im Rückgriff auf den literarischen Kanon – nach dem Motto: Goethe adelt alles! Was uns dann mit der bahnbrechenden Umstellung versöhnen konnte.

Natürlich lebt Twitter – wie die Social Media insgesamt – auch wesentlich von der Kombination aus Text UND Bild, wie im folgenden Beispiel zu sehen ist, das kulturelle Diversität genial veranschaulicht:

Mit minimalen Mitteln (Textmenge und Bildverweis aus dem Alltagsleben) veranschaulicht Passig eine Hypothese und zieht in der Verknappung einen breiten Referenzrahmen auf. Anspielungsreich und ironisch.

Und es geht noch kürzer.
Peter Breuer erschafft und zitiert mittels der Text-Zeichen selbst ein Bild:

Dergleichen Intertextualität und Intermedialität ist auf Twitter oft zu finden. Meist verbunden mit Ironie und unter Einsatz von Wortwitz. Der Anspielungsreichtum ist bemerkenswert, macht Freude und ist zuweilen voraussetzungsvoll.

Folgende drei Beispiele aus der Kampagne #weilwirdichlieben der BVG Berlin (ÖPNV, U-Bahn) belegen, dass die Welt des Marketing ebenfalls wundervolle Ideen für Tweets mit rhetorischem Witz und selbstkritischer Ironie hat:

Die Profitexter der BVG erschaffen am laufenden Meter humorvolle Wortspiele und es gelingt ihnen durch die Selbstironie bezüglich der bekannten Schwachstellen des Verkehrsbetriebes, zahlreiche Sympathiepunkte zu sammeln und sich die Kundschaft gewogen zu halten.

Oft nehmen die BVG-Posts Bezugnahme auf aktuelle Geschehnisse, wie hier zur Raumfahrtmission zur ISS:

Auch die Groovywords-Aktion, bei der man Worte einreichen und erklären konnte, die wenige kennen und die dann bebildert wurden, war geeignet, auf Twitter verteilt zu werden – meine dort eingebrachte „Depperte Blunzn“ mit handgeschnitzter Wikipedia Lookalike-Erklärung wurde saftig illustriert und mochte die ein oder andere Wortliebhaberin erfreuen:


Überhaupt findet die Lust an Sprache auf Twitter zahlreich und vielfältig ihren Ausdruck:

Womit wir wieder bei dem reinen Text-Tweet angekommen wären, denn es soll ja eigentlich um die Qualität von Texten gehen.

Daher zum Ausklang dieser Betrachtung eine Miniatur aus dem Bereich der kleinen Alltagsdramen, die vielen von uns bekannt sein dürfte. Kerstin Brune erzeugt kongeniales Storytelling auf knappstem Raum:

Fazit: Die virtuose Kurzprosa der Tweets und die fulminant-ironischen, spielfreudigen Micro-Stories sowie die intertextuellen Referenzen bieten sprachliche Schönheit und ästhetischen Genuss – dafür ist Twitter zu schätzen und zu lieben.
Solche Tweets heilen auch ein wenig die Wunden, die uns die vielen Fake News, Hasstweets und auch die realen Zumutungen des Weltgeschehens, die zeitgleich in unsere Twitter-Timeline gespült werden, zufügen.

++++

Bonus-Tracks:

Geistreiches aus dem Tech-Bereich, der nicht unerwähnt bleiben soll:

Jetzt kommt es raus:


„Startup-Idee“ von Michael Seemann